Archive for the ‘dummdeutsch’ Category

Gottesteilchen

Sonntag, Juli 8th, 2012

Seitdem am 3. Juli die ersten Meldungen über die Entdeckung des Higgs-Bosons veröffentlicht wurden, ist der Nachrichten kein Ende, in denen von diesem Elementarteilchen als Gottesteilchen die Rede ist. Nicht nur Wissenschaftler weisen darauf hin, dass diese Bezeichnung irreführend ist – auch in vielen Blogs ist man sich einig, dass Journalisten den Begriff gegen alle wissenschaftliche Seriosität in reißerischer Absicht benutzen, dabei einer verlegerischen Dummheit aufsitzen und indirekt zu verstehen geben, dass sie selbst weder von Physik noch von Theologie viel verstanden haben und dies auch von ihrer Leserschaft nicht erwarten. So weit, so gut (oder so schlecht).

Am 6. Juli war nun in der WELT der Artikel zu lesen: „Warum das Higgs-Boson kein Gottesteilchen sein darf“. Darin heißt es, der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick appelliere an Wissenschaftler wie Journalisten, das am Europäischen Forschungszentrum Cern entdeckte Higgs-Boson nicht als „Gottesteilchen“ zu bezeichnen. Der Begriff „Gottesteilchen“ verleite zu dem Missverständnis, das Geheimnis der Schöpfung könne mit der Wissenschaft und dem menschlichen Verstand irgendwann völlig erklärt werden.

Irgendwann? Verleitet der Begriff „Gottesteilchen“ in Verbindung mit der Information, dass das Higgs-Teilchen das letzte Puzzlestück im mikroskopischen Modell sei, mit dem Physiker seit einem halben Jahrhundert die Welt beschreiben, nicht vielmehr zu dem Missverständnis, das Geheimnis der Schöpfung sei von der Wissenschaft und vom menschlichen Verstand genau jetzt, nämlich mit der Entdeckung des Higgs-Bosons, völlig erklärt?

Wäre nun das Higgs-Boson das Gottesteilchen, was könnte danach noch kommen? Und wenn es nur ein Gottesteilchen wäre – sind dann nicht alle Teilchen Gottes Teilchen?

Weltmeister Klitschko gewinnt schon vor dem Kampf

Samstag, Juli 7th, 2012

Am Nachmittag jedenfalls war im Inforadio zu hören: „Weltmeister Wladimir Klitschko verteidigt heute Abend seinen Titel“, und der Schweizerische Tagesanzeiger schreibt: „Der 36-jährige Ukrainer Wladimir Klitschko verteidigt heute (23.05 Uhr) seinen Titel im Berner Stade de Suisse gegen den Amerikaner Tony Thompson.“ Auch Bruder Witali müsste gar nicht mehr antreten – die Mitteldeutsche Zeitung vom 2. Juli 2012 weiß schon jetzt: „Boxweltmeister Witali Klitschko wird am 8. September dieses Jahres in Moskau seinen Titel gegen den deutschen Schwergewichtsboxer Manuel Charr verteidigen. Das teilte das Management des WBC-Champions am Montag offiziell mit.“

Offiziell! Und was, wenn einer der beiden Klitschko-Brüder den Kampf verliert?
Kann man einen Titel auch erfolglos verteidigen?

Bringschuld erbracht?

Montag, Juni 11th, 2012

„Bringschuld“ ist ein Begriff aus dem Kaufvertragsrecht und meint eine Schuld, die am Wohnort des Gläubigers zu begleichen ist, indem der Schuldner die Sache/Leistung beim Gläubiger erbringt. Haben die Vertragspartner beispielsweise bei einem Autokauf eine Bringschuld vereinbart, dann muss der Verkäufer (der Schuldner) das Kfz beim Käufer (dem Gläubiger) abliefern.

Vor kurzem hat der Begriff – insbesondere im Zusammenhang mit dem Thema Migration – Einzug in den allgemeinen Wortschatz gehalten. Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) spricht von der „Bringschuld der Migranten“, von denen sie mehr Einsatz und mehr Verantwortung für Deutschland fordert. Die niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan (CDU) will für eine erfolgreiche Integration auch die Zuwanderer in die Pflicht nehmen: „Es ist eine Bringschuld, Deutsch zu lernen, seine Kinder in die Kita zu schicken, sich mit dem deutschen Schulsystem auseinanderzusetzen und seine Kinder dort nicht untergehen zu lassen“.

In einer übertragenen (und gleichzeitig verflachten) Bedeutung taucht der Begriff jetzt auch im online-Duden auf. Als Beispiel steht dort: „der Verein hat gegenüber den Fans eine Bringschuld (Verpflichtung, etwas zu erbringen, zu leisten)“. Hier ist der Wohnort des „Gläubigers“, der im Zusammenhang mit dem Thema Migration noch eine große Rolle spielt, schon irrelevant – denn nicht alle Fans des Vereins sind Einwohner derselben Stadt, und die Verpflichtung, Leistung zu erbringen, gilt nicht nur bei Heim-, sondern auch bei Auswärtsspielen.

In der vom Duden beschriebenen Bedeutung hat auch Joachim Löw vor ein paar Tagen bei einer Pressekonferenz in Danzig den Begriff der Bringschuld verwendet, und zwar im Zusammenhang mit dem (Fehl-)Verhalten Jérôme Boatengs unmittelbar vor Antritt der Reise ins EM-Quartier. „Boateng ist in einer Bringschuld“ (stern.de, Hamburger Abendblatt, WZ, etc.), soll er gesagt haben, bzw. „Selbstverständlich hat er eine Bringschuld. Er muss in der Lage sein, sich in den nächsten Wochen zu zerreißen“ (Handelsblatt, ran, etc.). Vielleicht hat Löw ja beides gesagt – egal. Gemeint war jedenfalls, dass Boateng sein Verhalten durch hervorragende Leistungen beim Turnier wiedergutmachen muss.

Leider kam es, wie es kommen musste: Der Begriff ist zum – dummdeutschen – Selbstläufer geworden: Nachdem Boateng gestern gegen Portugal gut gespielt (oder: seine Schuld durch das Erbringen einer guten Leistung beglichen) hat, ist heute in fast jeder Zeitung der auf dem Mist der dpa gewachsene Unsinn zu lesen: „Bringschuld erbracht“.